Dr. Heidrun Markert, Germanistisches Institut der Humboldt-Universität

 

Cornelia Becker: Eintritt frei

In Cornelia Beckers Geschichten begleitet zumeist ein Erzähler die handelnden Personen in konfliktträchtigen Lebenssituationen, artikuliert deren Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Träume, Erinnerungen und Entscheidungen. Fast unmerklich sind die Übergänge von der überschauenden Außensicht in die Innenperspektive der Figuren, gleichwohl bleibt in der Regel die Erzählerstimme präsent; detailliert beschreibend, ohne vordergründige Bewertung, beglaubigt sie auf diese Weise das Erzählte und öffnet dem Leser den Blick für die Einbindung der Figuren in eine konkrete räumliche und soziale Umwelt.

Durch wiederkehrende Motive, Figuren und Handlungsräume miteinander verknüpft, vermitteln die dreizehn Erzählungen die Vorstellung von einem zusammenhängenden Ganzen; von einem Kulturraum, der als Europa identifiziert werden kann.

Die Geschichten exponieren Situationen, in denen sich Konflikte dramatisch zuspitzen, entfalten und Entscheidungen zustreben und versetzen den Leser in erwartungsvolle Spannung und Aufmerksamkeit, die durch eine nuancierte, dichte und anschauliche Sprache noch gesteigert werden.

Im Erleben der Figuren, auf dem das Schwergewicht der Darstellung liegt, spielen Unbewußtes, Träume und Phantasien eine hervorragende Rolle. Sie erwachsen äußeren Lebensverhältnissen der Akteure und lassen bedrängende Sehnsüchte wie auch Ängste offenbar werden. Zuweilen treten die Traum- und Phantasiegestalten auch in die Wirklichkeit, nehmen manifeste Gestalt an wie etwa die wachsenden Flügel der siebzehnjährigen Theres in „Im Jahr der Wunder“. Diese Flügel entziehen Theres ihrer dörflichen Welt, erheben sie gen Himmel, bis sie – in der Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel: „Dies ist nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte“ – auf die Welt zurückstürzt, in Berlin landet, sich mit ihrem unabänderlichen Anderssein identifiziert und als Tanzakrobatin, die ihre Flügel zu beherrschen lernt, einen Platz in der Gesellschaft findet. Trotz dieser „realistischen“ Wendung der phantastischen Geschichte muß dem mitfühlenden Leser die dargestellte Entwicklung zwar wünschenswert und ästhetisch reizvoll erscheinen, aber als Lösung der Konfliktlage bleibt sie unwirklich und provokant.

Durch Einführung des an die Figur gehefteten Phantastischen gerät das soziale Umfeld auf den Prüfstand. In den Reaktionen auf die Wahrnehmung des Ungewöhnlichen, Andersartigen und damit Fremden offenbaren sich Vorurteile, Ablehnung, aber auch Gegenteiliges wie Bewunderung, Toleranz, Solidarität und Menschlichkeit.

Die Begegnung mit dem Fremden ist ein zentrales Thema und wird in unterschiedlichen Sinn- und Bedeutungszusammenhängen sowie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.

Gemeinsam ist den meisten Figuren, daß sie Reisende sind, die sich auf den Weg machen, ihre gewohnte Umgebung und damit auch ihre bisherige soziale und kulturelle Einbindung verlassen, meist mit ambivalenten Folgen.

Die Motive zum Aufbruch sind vielfältig: Unter dem Druck anonymer Drohungen gegen ihn als vermeintlichem „Mohammedaner“ verläßt der beruflich erfolgreiche Berliner Moharem in „Eastside“ die Stadt und nimmt Zuflucht bei seinem Freund Michael in Granada. Aber auch die Zuflucht erscheint als zweifelhafte Lösung, wenn man die dortigen, in einer anderen Geschichte erwähnten Anfeindungen gegenüber dem schwulen Freund bedenkt. Oder die Feindseligkeit und unmenschliche Behandlungsweise der afrikanischen Bootsflüchlinge an der spanischen Küste in „Worauf warten WIR?“. Gleichfalls zweifelhaft ist auch die Zuflucht, die die Bäuerin Lenchen Reineke der rumänischen Emigrantin Johanna als Magd auf ihrem Bauernhof gewährt. Die Zuflucht in „Weg der Sterne“ wird zum Ort einsamen Sterbens der Emigrantin.

Andere Reisende wie Anne und Barbara dagegen sind unterwegs, um festgefahrenen , unbefriedigenden und unerträglichen Verhältnissen zu entfliehen, ihrer eignen Lebenswünsche inne zu werden und diese zu verwirklichen, aber auch sie verlassen trotz überraschender Entwicklungen und Wendungen die Erzählbühne ohne sichere, endgültige Gewißheiten.

Die Geschichten sind durchzogen von Motiven, die Figuren und Begebenheiten in gleichnishafte und überzeitliche Sinnzusammenhänge stellen, kulturelles Wissen aktivieren Antike Mythen wie die von Ikarus und Pegasus werden aufgerufen. Das vielfach verarbeitete Engel- Motiv ruft biblische Erzählungen ins Gedächtnis und mit dem Teleskop- Motiv stellen sich Assoziationen zur Erzählliteratur der Romantik her. Cornelia Becker wählt und verarbeitet vor allem solche tradierten Motive, die auf den Wunsch des Menschen verweisen, Grenzen in Geist und Raum zu überwinden; die zugleich aber auch die damit verbundenen Ungewißheiten, Risiken und Gefahren einschließen.

Cornelia Beckers Geschichten gehen unter die Haut. Auf emotional eindrückliche Weise wird die heutige Lebenswelt nahegerückt und befragt nach ihren Möglichkeiten und Hemmnissen für Selbstverwirklichung und Zusammenleben.. Drei Mal begegnet der Leser im Buch dem personifizierten Turmgedächtnis. Obgleich Außenseitergestalt, repräsentiert die alte Geschichtenerzählerin ihren Stand und das Bewußtsein von dessen gesellschaftlicher Rolle und Bedeutung. Indem sie den jungen Turmbesuchern durch ihre Geschichten den Sinn für Geschichte und Schicksale zu wecken sucht, verkörpert sie eine Kraft gegen Oberflächlichkeit, Sinnleere, Orientierungs- und Gewissenlosigkeit.

 

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