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Melissa Radio Kultur, Zeitpunkte.mp3
MP3 Audio Datei 3.7 MB

MELISSA

 

Hörproduktion SFB Radio Kultur


Melissa will allein leben. Sie wird eine Wohnung mieten. In Paris! Aber das ist unmöglich, sagt die Familie und sucht nach vernünftigen Argumenten. Der älteste Sohn verschickt Faxe, und bittet die weitverzweigten Angehörigen um Hilfe. Aber Melissa hat einen Dickkopf: - Neun Kinder habe ich großgezogen, jetzt soll ich die Enkel erziehen? Daran hat niemand gedacht. Nein, das will ihr keiner zumuten. Aber in deinem Alter Maman und allein! Melissa fliegt. Im Sommer 85 von Algier nach Paris, und wohnt zunächst bei der Tochter. Das Familienfax beruhigt sich, solange sie dort lebt, gibt es keine Einwände. Aber ein Jahr später verkündet Me- lissa, daß sie nun eine Wohnung im 15. Arrondissement gefunden hat. Das ist unglaublich. Im Herzen von Paris, wie hat sie das geschafft? Bei ihrem Einzug in die erste eigene Wohnung ist Melissa 65 Jahre jung sagt sie, ihr fehlt nichts, sagt sie.
Bei unserem Besuch zeigt sie mir und Cherif stolz die Wohnung. Der Fernseher läuft, ohne Ton, begleitet von französischen und arabischen Stimmen aus dem Radio. Der algerische Sender, der ist wichtig. - Und? Wie hast du das geschafft, Ma? frage ich und zeige in den Raum. Sie lacht. Ist täglich zum Amt und hat dort einer Dame - tres chique, tres elegant - Geschenke gebracht. Und Melissa wollte nicht irgendeine Wohnung. Sie hatte genaue Vorstellungen: Sauber. Preiswert. In der Nähe zum Park . Wir trinken grünen Tee aus Nanaminze. Durch die Lamellen der Jalousien sehen wir aus dem achten Stock hinunter auf Paris,die Bäume im Park funkeln unter der Sonne.
Melissa Ben Salem. 1920 in der Kabylei in Algerien geboren. Älteste Tochter einer zwölfköpfigen Familie. Schon als Mädchen hilft sie der Mutter in Haus und Hof, besucht keine Schule. Mit 16 Jahren eine arrangierte Ehe mit Said Ben Salem. 1937 migriert die Familie nach Nordfrankreich. Said arbeitet im Bergwerk. Melissa setzt durch, daß auch die Mädchen das Lyzeum besuchen. 1963, nach dem algerischen Befreiungskrieg, Rückkehr der Familie nach Algerien, sie leben in Algier. - Es war eine gute Zeit. Ach, die Franzosen. Wir hätten mit ihnen leben können, hätten sie uns in Ruhe gelassen. Algerien ist ein reiches fruchtbares Land, es gibt Platz für alle!
Die Kinder besuchen wieder die Schule, studieren. Auch die Mädchen. - Was du hier hast, Melissa tippt auf ihre Stirn, das ist dir sicher. Alles andere kann dir genommen werden. Jederzeit. Aber Wissen und Sprache, das ist wichtig!
Said stirbt früh an einem Lungenkarzinom. Als alle Kinder einen Beruf erlernt haben, teilweise verheiratet sind, kehrt Melissa zurück nach Europa.
Im Radio spielen sie einen RAI von Cheika Rimitti. Melissa stellt den Ton lauter, klatscht in die Hände. Der Gesichts-
ausdruck eines Kindes, dem ein Streich gelungen ist. Cheika Rimitti, die singt von den verbotenen Leidenschaften der alg. Frauen. Und Cherif klopft den Takt auf der Tischplatte dazu. Jujujuju...Ja, seine Mutter hat RAi, sie hat es begriffen.

- Das Leben ist ein Geschenk. Und wenn es kommt, dann mußt du zupacken! ruft Melissa.
Vor zwei Jahren war sie das letzte Mal in Algerien. - Das Land ist verdorben. Die Leute haben Angst auf der Straße, sie reibt sich die Augen. 5 Stunden Bahnfahrt für hundert Kilometer, wegen der Bombendrohungen! Diese Fanatiker! Nein, so hat Allah das nicht gewollt. Kein Gott kann das wollen. Es sind die Menschen, sagt Melissa. Aber dann lacht sie, über den Schwager, der sie schließlich doch noch am Bahnhof abholte, der dick geworden ist und alt, der die Tante quält mit seiner Bissigkeit. Sie fasst mich am Arm - Paß auf, ma Chere, das er nicht dick wird und mürrisch, dein Mann. Alte Männer können so dumm sein, sagt Melissa und schnalzt mit der Zunge. Wie eine Tomatenscheibe hängt die Sonne über dem Park. Im Fernsehen öffnet und schließt die Familienministerin den Mund.

- Madame X, da ist sie ja, von ihr habe ich die Wohnung bekommen!
- Ma, das ist die Familienministerin, du irrst dich, sagt Cherif.

-Aber nein, sie ist es, ich bin ganz sicher. Ich wußte nicht, daß sie Minister ist. Sieh doch, sie trägt sogar den Schal, den sie von mir bekommen hat. Ist sie nicht elegant?

 

 

 

 

Wer ist Saida?


erschienen in:All die schönen Sünden, Rowohlt


Die Bilder. Sie wechselten, überlagerten einander. Eine Flut, die mich überschwemmte. Und immer war da dieses Blau, in Flächen angeordnet. Heraus traten andere farbige Felder, gelb, ocker, purpur, sie brachten das Blau zum Vibrieren. Die heitere, wassergelöste Farbe bekam dramatische Akzente durch einen Strich, eine Linie am Horizont. Und hielt die einander durchdringenden Rechtecke, gab ihnen Form, Spannung: Fels, Baum, Mensch.
Ich verlor mich in den Bildern.
Immer wenn ich in dieses Land kam, wurde ich überwältigt von seinem blauen Strahlen. Dieses Mal mußte ich vorsichtig sein, denn jede Linie verwandelte sich in einen männlichen Körper, scharf gezeichnet die starken und feinen Konturen, - schattige Olivenhaut....
Konzentrier dich! Auf den Vortrag "Macke und seine Orientrezeption". Ja, Macke hatte die Fähigkeit zu sehen und zu gestalten. Ein "gemaltes fettes Haremsweib oder sowas" , nahm seine Phantasie vorweg, schon vor der Ankunft in Tunis.
Die Männer, ocker, olive, hier mit mir im Vortragssaal, vor dem Blau des Fensters. Bei aller Wissenschaft wissen sie, wie man eine Frau ansehen, wie man mit ihr sprechen muss, damit sie ...Wer s i e? Ich! Damit ich heimkehre in meinen weiblichen Körper. Angespannt, mit leicht geöffneten Beinen sitze ich da, und die Stimme des Redners bekommt Hände, die mich berühren.
Blödsinn, ich muss aufhören, dieses blaue Sehnen macht mich noch ganz wirr. Katharina, du bist hier, um zu arbeiten. Du wirst dir so ein billiges Abenteuer nicht erlauben!

Trotzdem habe ich gestern gern die Einladung von Hassan Benoudy angenommen. Das verspricht eine Abwechslung. Hassan führt eine Galerie in Tunis, auf internationalem Niveau, wie er sagt. Er wird mich heute nach der Veranstaltung mitnehmen. Wir werden einen Tee trinken, in der Villa am Meer. Werden über die Wirkung der Bilder, ihre Schwächen, reden, denn dort, an ihrer empfindlichsten Stelle, zeigen sie ihre Substanz, sagt Hassan. Sein charmanter französischer Akzent wird mich hervorkitzeln, witzig, scharfsinnig werde ich antworten, und das blaue Band wird sich um uns schließen ...
Als Hassan mich vom Hotel abholt, bin ich kühl, geduscht und halte meinen klaren Kopf oben, wo er hingehört. Auch er spürt, dass mir die Hitze weder zu Kopf gestiegen, noch in den Bauch gesprungen ist und wahrt die kollegiale Distanz. Das merke ich an seiner Stimme, die glatt und ohne Schmelz über seine dünnen Lippen kommt.
Der graue Peugeot ist mit Ledersitzen ausgestattet, an denen ich festklebe. Über der Ablage vom Armaturenbrett eine Fellimitation, rosa! Die Straße ist im schlechten Zustand, wir schlingern und holpern darüber, während Hassan erzählt. Seine Familie pflegt die Tradition, verbringt die Sommer in der Villa am Meer. Während des Jahres sieht man sich selten, Brüder und Schwestern leben mit ihren Familien in Sousse oder Tunis. Der Vater ist tot. Die Mutter hält den Clan zusammen. - Eine große Familie. Ich warne dich. Ein Club der Exzentriker...
Ich unterdrücke ein Lächeln und sehe auf das rosafarbene Fell vor mir.

Die üblichen Begrüßungsformeln. Wir sprechen französisch. Madame Benoudi entschuldigt sich für das Chaos, man sei auf Besuch nicht vorbereitet. Sie führt mich in den Salon, der trotz der halbgeschlossenen Jalousien lichtdurchflutet ist. Blaue Transparenz. Kanapees mit tiefen Sitzflächen, Intarsien verzieren zwei alte Schränke, ein großer Eßtisch vor den Fenstern, bucklige, gekalkte Mauern, Fliesen um Tür und Fensterrahmen. Zwei Töchter werden mir vorgestellt. Die Frauen erzählen, dass sie für den Aid Es Seghir vorbereiten, die Männer, die Kinder zum Strand geschickt hätten. Eine dritte Frau steht an einem Schrank gelehnt, eine Tasse in der Hand, und beteiligt sich nicht am Gespräch. - Saida, sagt die Mutter. Saida reicht mir die Hand, nickt. Sie ist schlank und schmal, eine Latzhose voller Farbflecke schlottert ihr um den Körper, Das lange dunkle Haar streng nach hinten gebunden. Sie steht einfach nur da, starrt mich an aus grünen Augen. Grün wie ein Moosteppich, der zur Pupille hin auszackt und gelb wird. Ihre frecher Blick stößt mich ab. Als sie den Kopf wendet, sehe ich die Narbe, die exakt die Linie des rechten Jochbogens nachzeichnet.
Die Frauen fordern mich auf, Platz zu nehmen, bringen The à la mente, Baclawa. Fragen nach meiner Arbeit, meiner Familie. Nein, ich bin nicht verheiratet, lebe allein. Habe nicht vor, das zu ändern. Den letzten Satz spreche ich nicht aus. Die Frauen hören mir zu, aber wie immer in solchen Runden habe ich das Gefühl, dass sie nicht mit meinen Ansichten übereinstimmen, und aus Höflichkeit schweigen.
Die Hennapaste ist fertig. Sie möchten, dass auch ich mir Füße und Hände mit Henna bemalen lasse. Saida soll diese Aufgabe übernehmen. - Sie braucht keine Schablone. Sie ist eine Künstlerin darin, sagt Madame Benoudy. Sie weisen mir einen Platz auf dem Kanapee, rücken mir Kissen zurecht. Hassan lacht, klopft seiner Schwester ermutigend auf die Schulter. - Dann bin ich ja überflüssig und gehe auch zum Strand. Saida zuckt die Schultern und setzt sich zu meinen Füßen.
Sie hat sehr feine lange Hände und Finger, geschickt führte sie den Pinsel, trägt die Paste in filigranen Ornamenten auf. Ihr dunkler Schopf über meine Füße gebeugt. Als sie mit der rechten Ferse fertig ist, will ich ihr den Fuß entziehen, doch sie greift fest zu, sieht aus ihren herrlichen grünen Augen zu mir auf, lächelt spöttisch.
In ihrer Ruhe spüre ich meine Anspannung, versuche einen leichten, scherzenden Ton anzuschlagen, der mir nur zu Worthülsen gerät, über das Wetter, die bevorstehenden Feiertage. Saida nickt.
Finger und Pinsel streifen über meine Fußkanten. Ich weiß nicht, ob es ihre Sicherheit und Bestimmheit, mit der sie die präzisen Striche setzt, ist, aber ich werde ruhig. Mein Fuß in ihrem Schoß, ihrer Hand. Matt von der Hitze gebe ich mich ganz in ihre Hände. Zwei Körper, eine Verbindung. Ihre Bewegung dringt mir unter die Haut, wandert über meine Schenkel, den Schoß, hinauf zum Bauch, jedes Körperteil fühle ich wie unter einer langen quälenden Bewegung, als würde sie mit dem rauen Pinsel die Konturen herausarbeiten. Meine Haut eine Membran, die von den Füßen bis zur Kopfhaut vibriert, und sie, die versucht darunter zu gelangen. Wäre es die Berührung eines Mannes, würde ich sie geniessen? Oder würde ich aufgespringen, schreien? So sitze ich, ihrem Willen unterworfen, fühle, wie sie einen Bann um mich legt, eine dunkelblaue Blase, die uns von den anderen Frauen trennt, bis ich kaum noch atmen kann, zittere, trotz der großen Hitze, und mir übel wird ...
Als sie fertig ist, fragt sie: - Die Hände auch? und greift schon zu. Nein, ich verstecke meine Hände. Die Blase zerplatzt.
- Ca va, Catherine?
Sie spricht meinen Namen, als lutsche sie ein Bonbon. Sieht mich lange an, und lacht plötzlich laut, den Kopf in den Nacken gelegt. Die Hände, hennarot, hängen in ihrem Schoß.
Ihre Mutter fährt herum: - Was ist mit Ihnen?
- Ich fühle mich nicht gut, hauche ich. Die Hitze ...
-Saida, est-ce tu es folle? Geh und hole ihr einen Tee. Saidas Lachen verstummt, aber sie bleibt einfach vor mir sitzen, stützt ihren Kopf in die saubere Handfläche, die roten Fingerspitzen weisen auf mich und sieht mich an. Eine der Schwestern steht schließlich auf, bringt mir den Tee.
- Saida, was tust du, fragt ihre Mutter nun wieder.
- Sie ist so schön. Ich sollte sie malen.
Alles in mir lehnt sich auf gegen sie, ich will weg, aber ich kann nicht, die Farbe an meinen Füßen braucht eine Stunde, um zu trocknen.
Hassan kommt vom Meer zurück und mit ihm ein großer Teil der Familie. Zwei Brüder, ihre Frauen, eine Horde Kinder, die hinaus- und hineinflattern. Das Haus summt von der Energie, der Sommerwärme, die sie mit sich bringen. Und der Geruch von Meer und Salz verbreitet sich überall. Ich weiß nicht, wieviele Hände ich drücke, sie sind ein einziger lebendiger, fließender Körper. Nochmals muß ich eine halbe Stunde aushalten.
Saida hat die Aufgabe, mich zur Tür zu begleiten, während Hassan schon zum Wagen vorausgegangen ist. Unter dem Eingangsbogen flüstert sie mir zu: - Komm morgen Nacht um ein Uhr zum Strand, am Hohlweg. Überrascht drehe ich mich zu ihr herum, aber ich stehe vor dem verschlossenen blauen Portal mit schwarzen Nieten.

Ein stickiger, schwüler Abend. Bei geöffnetem Fenster liege ich auf dem Hotelbett, höre die Wellen ein und ausgehen. Dämmerung. Der Himmel legt sich wie violettes Papier über den Ort. Ich stelle mir vor, wie die Häuser permuttern schimmern. Knisternde, aufgeladene Stimmung, bevor sich der Himmel weitet und alles nur noch blau in blau ist. Die Ruhe, die Gewissheit, die davon ausgeht. Könnte ich malen. Wie Macke. Mir fehlt das Talent. Die Kunstgeschichte ist nur ein Ersatz. Aber ich habe mir einen Namen gemacht. Arbeite für verschiedene Zeitschriften, gediegene Reisemagazine, mein Spezialgebiet ist der Maghreb, schöngeistige Betrachtungen, sprachliche Bilder. Durchziehe die Reiseberichte mit feinziselierten, eleganten Analysen. Gebe ihnen eine andere Textur, durch das das Land, seine Einwohner und ihre Gebräuche neu aufscheinen.
Ich werde nicht gehen!
Die Wellen strömen ein und aus. Ein Muezzin ruft zum Abendgebet. Und plötzlich bin ich Monate, Jahre von meinem Kontinent entfernt,
bin nur ein Wurfgeschoß in fremden Händen. Das Katapult senkt, dehnt sich, und schleudert mich in ihre Arme.
Ich falle in einen unruhigen Schlaf, erwache, die Hand zwischen meine Schenkel gepresst, mit dem sicheren Gefühl, durch das Fenster beobachtet worden zu sein. Im Fensterviereck hängt die Nacht, schwerer, schwarzer Samt. Sterne steigen auf und verglühen. Eine orientalische Nacht, denke ich nicht ohne Ironie.

Ich gehe unterhalb der Hotelanlagen. Ein schwarzer Wächter steht plötzlich vor mir, ein Targi, schwarzer Schatten in schwarzer Nacht. Hochaufgerichtet. Er durchschaut mich! Wieviele weiße Frauen hat er schon so durch die Nacht huschen sehen? Eine Europäerin auf ihrem Weg zu einem schlüpfrigen Abenteuer. Schatten, wie er. Ich gehe in einer langen Reihe von Schatten, gehe, das Bild zu erneuern. Oder sind es meine eigenen Bilder, denen ich aufsitze?
Ich stolper weiter am Strand entlang, das Gefühl, aus hundert Augen beobachtet zu werden verlässt mich nicht mehr. Oberhalb im Garten einer Villa schlägt ein Hund an und verfolgt mich bis jenseits der Gartenmauer. Der Hohlweg liegt dunkel zwischen dichten Kakteenwänden.
Saida ist nicht da.
Ich warte, eine halbe Stunde vergeht. Mit eingezogenen Schultern, die Hände in den Hosentaschen, stapfe ich im Sand herum. Eine Frau wie du, hüpft von einem Bein auf das andere wie ein Schulmädchen das am kalten Wintermorgen auf den Bus wartet. Und nun musst du auf zwei Beinen an dem Targi vorbei ...
Da höre ich hinter mir das Knirschen von Kies. Ein Wagen rollt heran. Kein Licht. Kein Motorgeräusch.
Ich schmolle, warum kommt sie so spät ? Und überhaupt warum dieses Geheimnis? Aber das Herz klopft mir im Hals. Saida ist brüsk, ungehalten. Niemand habe mich gezwungen zu kommen.
Sie redet sich heraus. Verpflichtungen. Die Familie. - Ich bin eine verheiratete Frau. Habe eine Tochter.
Wer glaubt sie denn zu sein, dass sie mich so behandeln kann?
Wir gehen am Wasser entlang. Die Abstände zwischen den Häusern werden immer größer, vereinzelte Dattelpalmen stehen reglos.
Saida stößt mich an, wir rennen an der Wasserlinie entlang, bis sie stolpert und mich mit hinunterzieht. Und plötzlich liegen wir übereinander im feuchten Sand, und sie küsst mich auf den Mund. Die alte Haut platzt und ich schäle mich heraus, nackt, schutzlos liege ich, die Augen geschlossen. Das Wasser umspült meine Füße, wie vormals ihre Finger, und ich warte ergeben auf einen weiteren Kuß. Über mir höre ich Saidas schweren Atem, lasse geschehen, dass sie meinen Kopf vorsichtig anhebt, ihn in ihrem Schoß vergräbt. Ich rieche das Terpentin, die Farben in ihrer Kleidung und darunter, ganz tief verborgen, etwas vom Muschelfleisch ihrer Glieder.
Meinen Kopf zwischen ihren Oberschenkeln, hält sie meine Schultern, meinen Hals, und ihre geöffneten Lippen fahren über meine Augen, die Wangenknochen. Sie legt ihren Mund auf meinen, ihr Atem strömt ein und aus. Und als es nicht mehr zu ertragen ist, saugt Saida an meinen Lippen, knetet sie mit den Zähnen. Ist gebündelte Konzentration. Ich spüre ihre Hingabe in jeder Berührung, sie erlaubt sich nicht, sich von der Erregung wegtragen zu lassen. Und hält mich mit sanfter, eiserner Hand. Ich bin ein Klumpen Sand darin, und biege und strecke mich nach ihren Wünschen. Manchmal lässt sie von mir ab, schweigend sehen wir in den blinkenden Himmel über uns, in dem es rast und pulsiert. Manchmal tastet ihre freie Hand meinen Rücken, die Arme entlang, auch ich suche nach einem Stück nackter Haut, finde das raue Narbengewebe ihrer Wange. Sie schreckt zurück.
Was denn passiert sei, will ich wissen.
- Du fragst zuviel!
Sie lässt meinen Kopf in ihren Schoß zurückgleiten. Ich höre ihr wummerndes Herz, ihren tiefen, tiefen Atem. Sie schläft? Als ich mich aufrichte, ist sie sofort wieder über mir. Ihre Lippen liegen auf meinen. So vergehen Stunden in denen wir uns erschöpfen an unseren Küssen, in Dämmerschlaf fallen, bis eine von uns wieder die Lippen der anderen sucht ... Nur einmal legt sie ihre Hand auf meine Brust, leicht, zufällig, und ich glaube zu vergehen, so wie über mir die Sterne verglühen.

In der nächsten Nacht warte ich vergeblich auf sie. Zwei Stunden streiche ich am Strand entlang, wütend auf mich, auf Saida. Doch ich kann nicht weggehen, erregt durch den Zorn pulsiert mein Körper wieder unter ihren Berührungen. Ich stelle mir vor, wie ich sie zur Rede stellen werde, und mein Schoß pocht nur durch die Erinnerung an ihre Stimme, ihre Blicke. Zum Schluß wälze ich mich im körnigen Sand, um die feine Membran, das Netz, das sie um meine Haut geschlungen, abzustreifen.
Geduckt schleiche ich mich an dem Wächter zurück in die Hotelanlage. Und diesmal glaube ich seine weißen Zähne zu sehen, als er breit auf mich herablächelt.
Zwei Tage sehe ich sie nicht, versuche den Artikel über Macke und seine Tunisreise zu schreiben, gehe zu den Vorträgen. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann mich nur schwer konzentrieren.
Am dritten Morgen verlasse ich das Hotel ohne Pläne. Die Sonne steht hoch, vor das Aqarellblau des Himmels hat sich eine weiße flirrende Schicht gelegt. Es weht ein trockener, heißer Wind. Schirokko. Ich trage einen langen Rock und ein langärmeliges Hemd - meine Tunisuniform. Spüre, wie die seidigen Stoffe meinen Körper umfließen. Die schmalen schwarzen Riemchen meiner Sandalen umfassen das Hennamuster der Füße, wie ein erotisches Dessous. An den Blicken der Männer spüre ich, dass sie ähnliches sehen. Meine Hüften rollen.
Es ist Markttag. Zwischen weißen und blauen Häusern die traditionell rosa getünchte Wand eines Metzgerladens. Ein ausgeschlachteter Lammkörper hängt draußen an eisernen Haken. Ich bleibe stehen, bin Mittelpunkt, bündel die Blicke aller Männer und führe sie mit mir herum. Der Metzger, rothaarig, reibt seine weißen Hände, sagt: - Ein gutes Lamm, Madame. Und fährt mit seinem Handrücken über den ausgeschlachteten Körper, das Sonnenlicht lässt die roten Haare auf seinen weißen Armen funkeln und sein Blick gleitet über meinen Rock, meinen Bauch.
Plötzlich weiß ich, dass sie da ist, spüre ihre Gegenwart wie einen Magneten, wende mich um und sehe über viele Köpfe hinweg in ihr lächelndes Gesicht. Ich rufe sie beim Namen. Saida nickt freundlich, schließt sich einer Gruppe von Frauen an, und ist im nächsten Moment mit ihnen um eine Häuserecke verschwunden.
Ich flüchte zurück ins Hotel, für heute ist an Arbeit nicht mehr zu denken. Dabei geht schon in zwei Tagen meine Maschine zurück nach Deutschland, und ich habe erst die Hälfte von dem erledigt, was ich mir vorgenommen habe. Ein Grund zurückzukommen!
Zurückkehren willst du? Dich in dem langen Band dieser Frau weiter verwickeln? Verhälst dich wie diese blöden Touristinnen, die hierher kommen, um sich ein Abenteuer mit einem exotischen Mann zu erlauben. Verachtest sie dafür! Und nun bist du selbst verstrickt.
Ich, die ich mich nie von einem Mann abhängig gemacht habe. Ich, für die Leidenschaft nichts als ein dunkles Wort war. Und nun bin ich mittendrin in ihrem dunkeln Land. Wie soll es nun weitergehen, frage ich mich, und gehe zum Fenster. Ein ausgefranster Himmel liegt über dem Berg, an dessen Ausläufern sich ein Feigenbaum duckt, seine ledrigen Blätter ragen starr in den staubigen Horizont.

Ich begegne ihr erst in der Familie wieder. Am Abend vor dem Aid Es Seghir. Saida öffnet mir die Tür, sie trägt ein enganliegendes langes Kleid, hat die Haare im Nacken hochgesteckt, einzelne Strähnen haben sich gelöst, ringeln sich um das erhitzte Gesicht. Sie führt mich in den Salon, stellt mich den Gästen vor, einige davon kenne ich vom Symposium. Saida nimmt mir gegenüber Platz, spricht unverfänglich, in ihren dunkelgrünen Augen haben sich die gelben Flecken ausgebreitet.
Es ist schon spät, nach Sonnenuntergang, wie es die Regel des Ramadan verlangt. Das Essen ist üppig, ein Menue, bestehend aus mehreren Gängen. Vor allem die tunesichen Gäste essen ausgiebig, schweigsam, loben die Speisen, dass man ja in Tunis unter dem Ramadan kaum noch eine solche Mahlzeit bekommt.
Ich probiere aus Höflichkeit etwas von dem Couscous. Auch Saida isst wenig, füllt ihr Weinglas mehrere Male nach. Hassan fragt, ob ich keinen Appetit habe, dass sie alle verhungert seien, den ganzen Tag ohne Essen und Trinken! Setzt ironisch hinzu: Eine gute Sitte, die die Figur erhalte. In Tunis sei jeder nach den eigenen Spielregeln enthaltsam. Rauchen, trinken, vögeln, essen, jeder nach seiner Facon. Und am Abend gäbe es Ramadan - take - away - Pakete in den Imbissstuben, für die, die aus den Büros strömen und die niemand zuhause erwartet.
Ich bin froh, als das Essen vorbei ist. Als der Tisch abgedeckt wird, folge ich den Frauen in die Küche, sie sprechen arabisch, lachen und scherzen. Ich habe den Eindruck, alle wissen Bescheid, mehr noch, sie haben Vergnügen an meiner Verwirrtheit.
Saida neben mir. Ich greife zu den Tassen, unsere Hände berühren sich, das genügt, um all die Zärtlichkeiten unserer ersten und einzigen Nacht wieder heraufzubeschwören. In ihren Augen irrlichtern gelbe Punkte, als sie mich ernst ansieht.
Eine der Schwestern tritt zwischen uns, macht eine Bemerkung auf arabisch, wieder lachen die Frauen, auch Saida lacht, sagt: - So oft warst du nun hier, aber unsere Sprache hast du nicht gelernt.
Dann sind wir allein in der Küche. Ich frage sie, warum sie nicht zum Strand gekommen ist. Sie antwortet, ich sei verrückt, schließlich sei sie eine verheiratete Frau. Das arabische Telefon schweige nie!
Ich bin verblüfft: - Du hast den Vorschlag gemacht.
- Etwas sagen und etwas tun, sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Und überhaupt ist es doch egal wer die Idee hatte. Damit drückt sie mich mit einer Hand sanft gegen die Wand.
Ich bin verwirrt, will erwidern. Sie schafft es immer wieder, die Dinge komplett auf den Kopf zu stellen. Ihr Verhalten scheint keinerlei Konsequenz zu fordern. Aber ihr Mund hüpft schon wie ein Vogel über mein Gesicht, meine Schultern. Sie ist exakt so groß wie ich. - Du bist so dick eingepackt, sagt sie und zieht mir das langärmelige Hemd von den Schultern. Die Kacheln im Rücken sind kalt, während vorn ihr Körper warme Wellen ausstrahlt. Immer noch berührt sie mich nur mit dem Mund, den Fingerspitzen. Ich will ihr ganzes Gewicht auf mir fühlen und ziehe sie an mich heran, doch sie steht fest auf ihren gegrätschten Beinen, und so verharren wir. Ihr Atem flattert in mein Gesicht. Ich rieche Minze, Kardamon, den Wein. Für einen quälenden Augenblick nichts weiter als dies, den Atem tauschen, ihr Blick fest und ernst auf mich gerichtet, dass ich meine Augen schließen muß.
Auf dem Herd blubbert der Kaffee.
Schritte im Flur, Saida bückt sich, als müsse sie ihre Schuhe schließen. Erst jetzt sehe ich, dass sie klobige, flache Schnürstiefel trägt. Ich ziehe mein Hemd über die Schultern hoch. Schon öffnet sich die Tür, Hassan fragt nach dem Mocca. Als Saida sich aufrichtet ist sie vollkommen ruhig, beherrscht. Fordert mich auf, nach nebenan zu gehen. Aufgelöst folge ich ihrem Bruder.
Saida, Meisterin der Verstellung. Wieder keimt Misstrauen in mir auf. Sie kann so gut lügen, wie sie geschmeidig mit dem Pinsel umgeht.
Am Tisch werde ich gefragt, was ich Mackes Tunisbildern denn noch hinzuzufügen habe. Ich stottere irgendetwas von bleu azur und tiefer Empfindung, das Französich springt mir aus dem Mund wie Geröllsplitter. Die Frauen werfen sich vielsagende Blicke zu. Saida bringt den Mocca, immer noch wartet man auf eine Antwort, alle sehen mich an. Hassan fragt besorgt nach meinem Befinden. - Die Hitze, stöhne ich.
- Ja, der Schirokko ist entsetzlich, pflichtet mir die Mutter bei. Ich nicke und rühre drei Löffel Zucker in den Kaffee.
Endlich geht auch dieser Abend vorbei, die Gäste verabschieden sich. Wieder ist es Saida, die mich zur Tür bringt. Sie zeigt mir einige Zimmer, das Schlafzimmer der Mutter, ein weiteres, alle in ähnlichem Stil ausgestattet, furnierte Schränke und Betten, pastellfarbene Überwürfe. Ich begreife sie nicht, will wissen, ob wir uns treffen können. Sie legt mir die Finger auf die Lippen, schaut zum Salon, und stößt mich in eines der Zimmer hinein.
Der Schlüssel dreht sich hinter mir im Schloss.
Aus dem Salon höre ich die Stimmen der Familie, die Kinder. Der Raum ist dunkel, riecht nach Oel und Lösungsmitteln, darüber schwebt ein feiner, süßlicher Geruch. Vor dem geöffnetem Fenster zeichnen sich aufwärtsstrebende Gitterstäbe ab. Ich erkenne ein Ehebett, einen Kleiderschrank, einen Spiegel und davor ein verhängtes Gestell. Ein Tisch daneben, mit unzähligen Flaschen und Tuben. Ihre Farben, ihre Staffelei erfasse ich. Ich setze mich auf die Bettkante unter dem Fenster, der schwere Geruch von Jasmin weht herein. Nebenan kommen und verlieren sich noch immer Schritte, Stimmen, heiter, gelöst in ihrer kehligen Sprache. Sicherlich reflektieren sie den Abend, die Gäste.
Einige Minuten später wird es still, die Tür öffnet sich, Saida tritt ein. Sie spricht nicht, legt sich angezogen auf das andere Bett. Die Umrisse ihres Körpers, ihre weißen Arme und Beine schälen sich flirrend und flimmernd aus der Dunkelheit heraus. Sie zündet eine Zigarette an, das Licht flackert auf, wirft ihren Schatten bis unter die Zimmerdecke, erlöscht. Sie inhaliert tief, plaudert über ihre Familie, ihre Tochter, die in dieser Nacht bei ihrer Mutter schläft.
- Und dein Mann?
- Warum willst du das wissen? Ist in Tunis. Geschäftsmann, hat viel zu tun.
Wir liegen nebeneinander und rauchen, wie zufällig fällt ihr Arm auf meinen, meine Hand wandert zu ihrer Achselhöhle, die glatt und feucht ist, fühlt die Knochen ihrer Schulter. Feines Glas, kühl und stark. Auch ihre Lippen sind kühl, als sie ihren Oberkörper auf meinen drückt, meinen Hals damit berührt. Ich bin unter ihrem Gewicht begraben, sie hält meine Arme heruntergedrückt, lutscht und schlürft an meinen Lippen, als seien sie ein Frucht. - Je te mange, murmelt sie, und berauscht von ihrer Zärtlichkeit schaukel ich in ihrer Umarmung, die jetzt nicht mehr fest und schwer ist, und wir schaukeln immer höher, und tiefer gleitet ihre Zunge in mich hinein. Mein heruntergerutschtes Hemd fesselt meine Hände. Sie zieht mir die Kleider vom Leib. Wir schwimmen in einem Geruch von Eisen und Rost, wie wenn man ganz tief in die Erde vorstößt. Die Körpergrenzen sind aufgelöst zwischen ihr und mir, und wieder flüstert sie: - Ich trinke dich aus. Ihre Stimme tief, wohllüstig. Meine Haut schwelt und kocht, und meine Brustwarzen sind hart wie Steine.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, als würden Hautschichten quälend langsam abgezogen. Ich werfe sie von mir herunter, drücke sie mit meinem Körper aufs Bett, dränge meine Beine zwischen ihre, sie öffnet sich, der Geruch von Meer und Rost ist überwältigend. Sie lacht, atmet in kurzen harten Stößen. Mit meiner Hand kann ich ihren Bauch umfassen, sie schreit, bäumt sich hoch, aber ich liege auf ihr, fest und sicher, und schließe meine Hand über ihrer Vulva, die nackt, rasiert ist. Ich fühle, wie ihr Körper unter mir schaudert, sich plötzlich versteift. Sie stößt mich von sich und lässt sich auf das andere Bett rollen. Aus großer Höhe fällt mein Körper zurück, ein Reißverschluß wird über verbrannter Haut geschlossen.
Saida, neben mir, atmet schwer. Enttäuscht, wütend hacke ich auf sie ein. Warum? Und jetzt, wie weiter? Und weiß schon, dass ich ihr Unrecht tue und jedes Wort sie von mir stößt. Ob ich ihr denn überhaupt etwas bedeute, frage ich sie. - Ja, antwortet sie. - Alles. Das ganze Leben.
Saida zündet zwei Zigaretten an, reicht mir eine, inhaliert, als ziehe sie den Rauch tief in ihren Bauch hinein. Nie zuvor habe ich diese Hingabe erlebt, diese vollkommene Harmonie zweier Körper. Warum nur ist sofort diese Wand aus Schweigen und Misstrauen da, wenn wir uns nicht berühren? Wir sind ungeübt, kennen nur die Lust mit Männerkörpern. Vielleicht findet sie mich ungeschickt?
- Saida, ich habe das noch nie ...
- ... mit einer Frau getan, gurrt sie. - Und? Ist das wichtig?
- Morgen werde ich fahren, wir haben keine Zeit ...
- Zeit, lacht sie. - Was hat die Zeit mit uns zu tun? und verschließt meinen Mund mit ihren Küssen.
Alles fängt wieder von vorn an.
Und zwischen zwei langen Küssen und unter ihrer Hand, die quälend langsam den Flaum auf meinem Rücken aufrichtet, vertraut sie mir die Geschichte ihrer Narbe an. Von einem, der sich im Villenviertel von Tunis herumtrieb. Saida ist auf dem Weg zu ihrer Schwester, und plötzlich spürt sie den heißen Atem hinter sich, das raue Stöhnen und die kalte Klinge an der Wange. Und schon ist er fort, und aus ihrem Gesicht drängt eine warme Flüssigkeit. Erst bei ihrer Schwester sieht sie im Spiegel, wie ihre rechte Gesichtshälfte in zwei Teile zerschnitten ist. Fünf Frauen sind in dieser Nacht schon vor ihr ins Hospital gebracht worden. Alle vom gleichen Messer gezeichnet. Saida erzählt mit ruhiger, klarer Stimme, von einem, der die Nacht und die Frauen nicht erträgt, einem, der nie gefunden wurde. - Ein Spuk, lacht sie, und irgendwann wird sie sich in Lafrance diese Narbe wegmachen lassen.
- Nein, du bist schön. Ich küsse sie auf den rechten Wangenbogen, fühle das wulstige Gewebe unter meiner Zunge. - Die Narbe muß bleiben.
- Verrückt, faucht sie und rückt von mir ab.
Besser nicht miteinander sprechen, sonst ist man sofort in verbotenem Gebiet.
Ich streichel sie, fange sie ein, schließlich ergibt sie sich wieder meinen Lippen. Wir versinken eine in dem Körper der anderen. Irgendwann flüstert sie, dass ich jetzt gehen müsse.
Ich weigere mich.
Ihre Augen sind schwefelgelb. Ihr Blick traurig und zornig: - Ich wußte, ich kann mich nicht auf dich verlassen, du bist kapriziös ... Abrupt läßt sie von mir ab, schwingt sich vom Bett.
Ein stumpfer, kühler Morgen stößt durch das Fenster. Aid Es Seghir. Der Morgen meiner Abreise.
Saida streift ein traditionelles Gewand über, lang und gerade geschnitten, malt mit ruhiger Hand einen Lidstrich über die Augen.
Ich weiß, dass ich gerade alles zerstöre, was in dieser Nacht zwischen uns entstanden ist. Ich kann nicht anders, es ist, als wenn jemand mich von hinten packt und Zwang ausübt.
Unbeweglich steht sie vor dem Spiegel, ein steinernes Relief, königlich, unnahbar.
Sie rafft ihr Haar im Nacken zusammen, geht hinaus. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich laufe zur Tür, die natürlich verschlossen ist, lasse mich langsam an ihr herunterrutschen, schaue zum vergitterten Fenster hinüber und muss plötzlich über meine freiwillige Gefangenschaft lachen.
Den ganzen Morgen kommen und gehen die Gäste. Die Kinder schreien, rufen, nehmen ihre Geschenke entgegen. Ich bin jetzt wütend auf mich selbst, auf die Situation, in die ich mich gebracht habe. Und was mag jetzt in Saida vor sich gehen? Geschichten fallen mir ein, in denen Menschen gebannt werden; ein wenig Haar, ein Stück vom Fingernagel, und schon ist man einem fremden Willen unterworfen.
Die Sonne ist herumgewandert, und die Schatten der Gitterstäbe zerteilen das Zimmer in langgestreckte, schmale Rechtecke. Ich lege mich, immer noch nackt, auf das Bett, das Licht wärmt mich. Lasse die Beine zur Seite fallen, stelle mir Saidas Berührungen vor, bin für einen Moment beseelt von Hoffnung und Zuversicht. Ich entführe sie, lebe mit ihr irgendwo auf dem Riff, werde über Internet meine Verbindung zur Welt halten, meine Arbeit fortsetzen. Mich wie ein Einheimische kleiden und taubstumm sein.
Blödsinnige Verse fallen mir ein, in denen Küsse wie Messer fallen, stumpfe Klingen über Körper streichen. Ich versuche ihre Bewegungen zu beschreiben, den Klang ihrer Stimme, hoffe, wenn ich all dies in Worte fassen kann, sie ihrerseits damit zu bezaubern, zu beschwören, damit sie sich mir ganz ergibt.
Und weiß schon, sie wird mich auslachen.
Unruhig laufe ich im Zimmer umher. Wühle in ihrem Kleiderschrank, ziehe mir ein langes Gewand an, ähnlich dem, mit dem sie das Zimmer verlassen hat. Hebe das Tuch über der Staffelei hoch: ein weiblicher Akt auf der Leinwand. Rücken, Nackenpartie, in einer einzigen geschwungenen Linie, ich ahne die Zärtlichkeit, die Konzentration, die Saida auf die Ausführung verwandt. Der Körper bedeckt von arabischen Schriftzeichen, die wie Narben tief ins Fleisch wuchern. Mir ist, als sei ich in das verbotene Zimmer König Blaubarts eingedrungen, und lasse das Tuch fallen.
Ich werfe mich auf das Bett. Durch das Fenster dringt ein blinkender blauer Himmel. Die Hitze ist bleiern, auch die Stimmen nebenan werden schwerer, apathischer. Meine Lider fallen zu.
Als ich erwache, ist es so still im Haus, dass ich erschrecke, plötzlich perlt ein Lachen auf, andere fallen ein.
Ich habe geträumt: sah, wie meine Hände eine rechteckige Kiste zusammennagelten. Als ich mich ausgestreckt hineinlege, weiß ich, dass dieser Platz nicht für mich bestimmt ist. Stattdessen entrolle ich darin große Papierstreifen, die mit meiner Handschrift bedeckt sind. Schon besser, aber irgendetwas fehlt. Als Saida kommt, bitte ich sie, ihre Schriftzeichen über meine zu legen. Und sie malt lange, hingegeben, die Zeichen ihrer Sprache, kunstvolle Kalligraphien auf durchschimmerndes Pergament. Sie wird nicht müde, bis jedes Zeichen die darunterliegenden Buchstaben bedecken.
Ich erwache in der Gewissheit, ein großes Rätsel gelöst zu haben.
Draußen werden die Stimmen wieder lauter. Ich lausche angespannt, man verabschiedet sich, Schritte verlassen den Raum.
Endlich dreht sich der Schlüssel im Schloss. Saida bringt mir Hammelfleisch, Früchte, Feigenschnaps. Das Fleisch ist heiß, und so zart, dass es mir auf der Zunge zergeht. Gierig esse ich, das Fett läuft mir am Kinn hinunter. Saida lacht und reibt mir Hände und Gesicht mit einem Tuch ab, dass nach Eukalyptus duftet.
- Jetzt bin ich deine Gefangene, was willst du mit mir tun?
- Dich lieben, sagt sie und entkleidetet sich. Kriecht auf allen vieren an mich heran. Ist mir jetzt ganz nahe, so dass ich ihren Geruch atmen kann, knabbert an meinen Ohrläppchen, meinem Hals.
Aber ich stoße sie von mir, frage, was jetzt mit uns passieren soll, schließlich muss ich heute noch fort. Sie zuckt die Schulter, nimmt sich einen Pfirsich, beist hinein und schaut mich spöttisch an: -Nun? Du hast doch sicher eine Antwort.
Ich unterbreite ihr Pläne, sage, ich könne im Sommer wiederkommen.
- Du willst so viel. Zuviel. Du willst alles festhalten, ruft sie plötzlich kläglich. - Nichts hast du begriffen!
Ein Streitgespräch entflammt, in dem ich ihr vorwerfe, nichts begreifen zu können, wenn sie mir keine Aufklärung gäbe. Während sie ausruft, wie sie mir denn etwas erklären könne, wenn ich keine Ohren habe, sie zu hören. Laut flucht sie in arabischer Sprache, als wolle sie einen Maulesel antreiben.
- Die Liebe spricht nicht mit der Zunge, sagt sie. - Jedenfalls in keiner der Sprachen, die du kennst!
Der Vorwurf trifft. Ich bin schockiert und stumm. Nehme meine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. Saida hält mich fest:
- Beruhige dich. Es ist schwül. Warum gehst du nicht duschen?
Sie schlafen alle. Sie öffnet die hintere Tür und nickt auffordernd. Tatsächlich muß ich pinkeln, und dies ist wohl die beste Gelegenheit, dem Gefängnis aus Wänden und Worten zu entkommen.
Ich muß den Innenhof durchqueren. Die Sonne steht hoch und der einzige Baum wirft seinen Schatten wie ein Pfahl.
Als ich unter dem Wasser stehe, höre ich plötzlich Saidas Stimme hinter mir: - Dreh dich nicht um, bleib ruhig, Schon spüre ich ihre Hände, die mich massieren. Sie beginnen im Nacken, wandern den Rücken hinunter. Leichte zärtliche Hände. Dann knetet sie meine Hinterbacken, dringt zwischen meine Beine. Mein Schoß ist so schlüpfrig, dass ihre Finger hineingleiten wie ein Fisch. So hält sie
mich, fordert mich auf, mich abzutrocknen und anzuziehen.
Wir gehen zurück durch das gleißende Licht. Im Zimmer zieht sie mich aus, drückt mich auf das Bett, setzt sich rittlings auf meinen Rücken. Ich höre, wie sie eine Flasche entkorkt, der Geruch von Orangen und Sandelholz breitet sich aus. Sie massiert mich mit Öl, irgendwann weiß ich nicht mehr, ob ihre Hände oder ihr Mund mich berühren. Mein Körper besteht aus tausend Poren und Falten, in die sie hineinschlüpft und schleckt und knetet. Ich höre mich selbst aus weiter Ferne stöhnen. Das Knurren eines Tieres. Sie aber hält mich zwischen ihren Schenkeln, ihr Geschlecht saugt an meinem Rücken. Ich will mich umdrehen zu ihr, sie umfassen. Doch rhythmisch bewegt sie sich auf mir, als sei ihr Körper mit meinem verschweißt.
Plötzlich rutscht sie von mir herunter, zwingt mich auf die Knie, umschließt meine Vulva von hinten und dringt hinein. So weit ich kann, spreize ich meine Beine auseinander, gleite auf ihren Fingern, die feucht vom Öl und meinem Saft sind. Fühle die Kontraktionen tief in meinem Innern, sehne mich nach der Erlösung. Aber Saida läßt wieder von mir ab. -Steh auf, raunt sie dicht an meinem Ohr, führt mich zum Spiegel. Darin scheinen die Olivenbäume in dem blauen Fensterviereck zu schweben, und ich davor, nackt, mit aufgerissenen Augen. Saidas Körper drückt sich gegen meinen Rücken, ich spüre ihre aufgerichteten Brustwarzen über meine Schulterblätter streichen, meine Knie zittern. Ich schließe die Augen. - Sieh dich an, sagt sie, wie schön du bist. Nein, sieh nicht weg, schäm dich nicht. Das bist du! Und wieder gleiten ihre Hände in meinen Schoß, ich reibe mich an ihren Fingern, sehe in dem Spiegel in ihre Augen, die mir über die Schulter blicken. Sie stößt immer tiefer in mich hinein, zieht ein stöhnendes, gieriges Wesen hervor. Ich bin verloren, denke ich ... kein Entkommen ...
Dann kann ich nicht mehr denken, sie führt mich zum Ziel. Ihre Hand in meinem Schoß, während die andere auf meinem Körper tanzt und spielt, wie auf einer Klaviatur, der sie ein Lied abzwingen will. Ich zucke und wimmer, bin eine Frucht in ihren Händen, der sie langsam und unerbittlich den Saft herausquetscht. Ich klappe nach vorn, Knie und Hände am Boden, sie legt ihre Hand auf mein Geschlecht, wartet, bis die Zuckungen nachlassen, hält mich, bettet mich wie eine Kranke auf Kissen und summt meinen Namen. Lange sitzen wir so, ineinanderverknäult, bis sie sagt: - Die Siesta ist gleich vorbei.
Unsere Schatten an der Wand ein Körper, und ich wundere mich, wie leicht sie sich trennen können.
Sie nickt, erklärt mir den Ausgang und geht hinaus. Fünf Minuten später folge ich ihr, schleiche am Schlafzimmer ihrer Mutter vorbei, stelle mir vor, wie die alte Dame dort mit ihrer vierjährigen Enkelin schläft.
Vor dem Hinterausgang sitzt Saida im laufenden Wagen. Ich drücke mich tief in die Polster. Ein Fenster wird geöffnet, für einen Moment zeigt sich das Gesicht einer Frau. Aber Saida fährt schon los, und plötzlich weiß ich, wie unglaublich kühn sie ist.
- Komm nach Europa, sage ich. Gebe ihr meine Adresse und Telefonnummer.
- Ja, sagt sie. - Je t'appelerai.
Staub dringt durch das geöffnete Fenster, purpur getönt, regungslos, liegt die Bucht vor uns. Etwas in mir drinnen wächst aus mir hinaus, ich kralle mich fest in der Fellimitation über dem Armaturenbrett. Eine rosa Linie vor blauer Fläche.
Saida hält einige Meter vor dem Hoteleingang, drückt meine Hand und sieht dabei auf die Straße. - Geh jetzt, sagt sie leise.

Ich sah sie nie wieder.
Schrieb ihr einige Postkarten. Die Farben an meinen Füßen verblassten, während ich auf Antwort wartete.
Aber immer erinnere ich mich an unser Bild im Spiegel, an ihre Worte: Das bist du!
Wer ist Saida?

 

 

 

Mantis religiosa


erschienen in: Tierische Liebe, Eichborn Verlag



Nichts. Nichts regt sich. Ein Insekt in der Verpuppung; autark, vollgefressen, im eigenen Schleim, Bewegung und Nahrungs- aufnahme eingestellt. Die vollkommene Verwandlung! Atem vom Brustkorb aufsteigend, in der Kehle rauh vibrierend. Etwas an ihr bewegt sich. Der kleine Finger. Funktioniert! Und doch ist es nur die Erinnerung an eine Bewegung. Körpererinnerung.
Plötzlich schreckt ein Knurren Josefa auf, das sich schnell zu einer rasselnden Tonabfolge steigert. Sie gerät in den gurgelnden Schlund, wird eingesogen, herumgewirbelt, und schließlich von einem trockenen Husten hinausgewürgt.
Sie blinzelt gegen eine hochstehende Sonne. Scherengitter. Blümchengardine. Gelbe Wände. Ein Kreuz.
Wieder setzt das Rasseln ein; im Nachbarbett entdeckt sie einen gigantischen Körper von weißen Laken verdeckt, das Bettzeug hebt und senkt sich. Eine Riesin, ein Trümmerhaufen liegt dort, den Mund geöffnet unter grauem wirren Haar. Ihre kolossale Brust bläht sich röchelnd auf, und sackt mit einem Grunzen in sich zusammen.
Die gelben Wände stehen still.
Die Augen fallen Josefa zu, und sie kehrt zurück in den Zustand der Verpuppung, will dort bleiben, sich festhalten wie eine Larve, aber die Riesin prügelt sie weiter, scheucht sie durch die Phasen der Metamorphose. Als Josefa die Augen wieder öffnet, sitzt am Boden eine Schabe, richtet ihre Fühler direkt auf sie. Was tust du hier, es ist zu früh für dich. Blatta orientalis. Cucaracha. Oder Cuca: in Anspielung auf das weibliche Geschlecht. Josefa trommelt leicht mit den Fingerspitzen gegen das Bettgestell. Die Cucaracha peilt, zieht sich wenige Schritte zurück, kommt wieder hervor. Die Fühler im Takt mit ihrem Herzschlag. Ein Schnarcher, und schon ist die Kakerlake im Mauerriß verschwunden.
Josefas Bauch schmerzt, ihr ist übel. Eine Binde hält das Blut. Geruch nach überreifen Mangos und Meeresschlick. Schwungvoll schlägt die Tür auf und läßt ein Überfallkommando herein. Zwei Krankenschwestern mit einem fahrbaren Chromgestell. Geschirrklappern, Kissen schütteln, Vorlagen wechseln. Na, aufgewacht? Eine Kleinigkeit essen, wieder zu Kräften kommen! Verlangen Sie nach der Schüssel, wenn sie Pipi machen müssen, rufts und verschwindet. Die Riesenfrau neben ihr ächzt und kaut. Sie spricht nicht. Zappt sich durch die Fernsehkanäle.
Es war nicht einmal zehn Wochen alt. Josefa hätte es wegmachen lassen. Aber dann hatten die Blutungen eingesetzt, die begleitenden Krämpfe waren hart, doch aushaltbar. Zwei Tage hatte sie geblutet, bevor sie ins Krankenhaus fuhr. Sie mußte sicher sein! Im OP angelangt, bellten sie Befehle und schrien wo ist das Embryo? Das Embryo ist verschwunden. Sie wollte es ihnen erklären, aber die Betäubung hatte ihr schon zugesetzt, und der Anästhesist sagte: Zählen Sie: un, dos, tres. Un, dos, dos ... hörte sie sich selbst sprechen. Das Letzte, was sie sah, war der Ring am Ohr des Gynäkologen, als er sich zwischen ihre Beine beugte. Dos, dos, dos ... Vorbei.
Männer mit Ohrringen hatte sie noch nie gemocht. Als sie jedoch den Arzt am nächsten Morgen zur Visite wiedersieht, durchzuckt es sie: Das ist er! Den Mann will sie haben. Jesus Negrin-Curbelo liest sie auf dem Schild an seinem Kittel.
Eine Ausschabung, das Embryo war schon ausgeschwemmt, flüstert die Oberschwester ihm zu, und lüftet die Bettdecke. Es hat wunderbar geklappt, ruft Josefa. Ich hätte es sowieso wegmachen lassen. Bestürztes Schweigen. Er nickt und steckt den Kopf zwischen ihre Beine. Sie zittert unter seiner Berührung. Es ist wie in schlechten Romanen, denkt sie. Josefa ist Biologin und gewohnt, mit Fakten umzugehen, mit den sentimentalen Gewohnheiten der Frauen hat sie sich nie vertraut gemacht. Atmen, pressen, er drückt ihren Unterleib. Sie sieht auf seinen dichten schwarzen Haarschopf hinab. Atmen, pressen, hinein, hinaus. Als käme er aus ihr heraus. Sie wartet, daß man ihn in ihre Arme legt. Er hebt den Kopf: Machen Sie sich keine Sorgen, es ist alles entfernt. In zwei, drei Monaten können Sie wieder schwanger werden. Aber ich will nicht, möchte sie rufen, doch sie schweigt und ihre Augen irren zum Kreuz. Denn es ist nicht einfach, den Geliebten anzusehen, wenn man bedenkt, daß er ihre Genitale, rasiert, desinfiziert, besser kennt, als die Farbe ihrer Augen, die Linie ihrer Nase, oder ihre Küsse ... Es ist geradezu vertrackt, denn seine Hände wissen mehr von ihrem Schoß, als sie selbst, aber sie ahnen nichts von ihrer Lust. Sie fragt sich, wie er Frauen lieben kann, ohne an den gynäkologischen Stuhl und an rasierte Schamlippen zu denken. Vielleicht denkt er an Geschwüre und Blut, seine Aphrodisiaka? Sie nimmt sich vor, mit ihm darüber zu sprechen. Wenn ihre Zeit gekommen ist.
Nach der Visite kriecht die Cuca aus ihrem Nest hinter den Kacheln. Josefa gibt ihr Reste vom Frühstück. Die Kakerlake kommt auch nachts, wenn das Mondlicht durch das Scherengitter gleitet. Das gibt ihrer Begegnung etwas Traumartiges. Bilder und Gedanken, die sie dem Insekt mitteilt, sind dann von einer gallertartigen Masse gezeichnet und doch präzise. Sie verstehen sich gut, verständigen sich mit Fingern und Fühlern.
Weißt du, daß du zur gleichen Art wie die Gottesanbeterin gehörst? Vornehme Verwandtschaft! Die Menschen allerdings hassen dich, weil du alles in dich reinfrißt. Bist ein richtiger Müllschlucker. Die Gottesanbeterin dagegen gibt sich nicht mit Abfällen zufrieden, sie ist eine wilde geschickte Jägerin, die nur lebende Insekten frißt. Alles andere verachtet sie! Ihren Namen hat sie erhalten, weil sie zur Tarnung ihre stacheligen Beine faltet und sich in gebetsähnlicher Haltung aufrichtet. Aber sie ist eine Räuberin. Mantis religiosa!
Ist die Cuca nicht da, übt sich Josefa im Halbschlaf. Krankenhausroutine, Klappern von Geschirr, die positiv aufgeladenen Stimmen des Personals, die gedrückteren der Besucher, das Fernsehprogramm, alles übersteht sie in ihrem Dämmerkokon. Nur während der Visite ist sie hellwach. Aber Dr. Curbelo bleibt spröde, und nichts kann ihn bewegen sich von ihrem Geschlecht (und dem der Nachbarin, Totaloperation, fünf Kinder, ständige Blutungen seit zwei Jahren) hochzuarbeiten zu ihrem Gesicht, ihrem Gehirn, ihrem Potential. Ein einziges Mal erhält sie Besuch, von der Nachbarin Mariesol. Josefa vertraut ihr an, daß sie sich in Dr. Curbelo verliebt hat. Aber die versteht nicht. Wie kannst du jetzt an sowas denken? sagt sie und schielt hinauf zum Kreuz.
Vom Embryovater hört Josefa nichts. Wozu auch? Ihre Beziehung ist ausgeblutet. Das für wenige Wochen geteilte Bett
( seines, sie erträgt keine Intimität in ihrer Wohnung), ein Schlachtfeld wissenschaftlich gesicherter Fakten, mit denen sie sich bombadierten. Er ist Zoologe.
Wenn die Nachbarin schläft, schleicht sich die Cucaracha an. Manchmal können sie bis zu einer Stunde beisammen sein und hängen ihren Gedanken nach. Die Kakerlake und die Gottesanbeterin legen ihre Eier in einen Kokon. Die Cucas tragen diese wochenlang mit sich herum, oder kleben sie in schwer zugängliche Ritzen und Spalten. Man könnte sie als fürsorglich bezeichnen, außer Frage steht, daß dieses Verhalten zum evolutionären Erfolg ihrer Art beigetragen hat.
An einem Vormittag - die Nachbarin schnorchelt und blubbert vor sich hin, die Cuca macht sich gerade über das Frühstücksbrötchen her, und Josefa schaut ihr interessiert dabei zu - stellt die Frau plötzlich ihr Schnarchen ein und schreit: Una cucaracha, una cucaracha. Socorro...
Das Dienstpersonal kommt. Sie beruhigen die Frau und wischen den Boden mit starken Reinigungsmitteln, danach spritzen sie Lejia, ein Bleichmittel, in die Ritzen der Kacheln.
Macht doch was ihr wollt. Ihr werdet sie nicht töten. Schaben haben vierhundert Millionen Jahre überlebt!
Nach diesem Zwischenfall beobachtet ihre Nachbarin sie mißtrauisch, verzichtet auf Fernsehprogramm und Schlaf, doch die Kakerlake, klug und umsichtig, kommt jetzt nur noch nachts.
Am fünften Tag soll Josefa entlassen werden. Eine Krankenschwester begleitet sie zum Untersuchungsraum. An den Wänden hängen Bilder von dickfleischigen Blüten, die ihre Blätter spreizen und die Blütenstempel preisgeben. Rosa, rot, bläulich schimmernd, als seien sie kurz davor zu platzen. Sie starrt die Blumenvulvas an und versteht. Dr Curbelo kommt, als sie schon mit weitgeöffneten Beinen auf dem gynäkologischen Stuhl liegt.
Josefa guckt weiter auf die Bilder, während seine gummierten Hände in ihrem Schoß suchen. Die Larve ist weg, sagt sie, und: die embryonale Metarmorphose, die ist doch wohl antiquiert für Frauen am Ende dieses Jahrhunderts? Die Frage hängt zwischen ihnen wie Klebstoff. Immerhin hebt er den Kopf und sieht sie an. In drei, vier Monaten werden Sie anders denken. Es ist der Schock. Unter einer überreifen Blüte stellt er ihr ein Rezept aus. Er ist romantisch, vielleicht will er Gedichte, aber er will keine Tatsachen. Also schluckt Josefa die Wahrheit hinunter.

In ihrer Wohnung dümpeln die Insekten in den Vivarien vor sich hin. Bevor sie sich darum kümmern kann, greift sie nach dem Telefonbuch, findet seinen Namen und die Adresse: Calle del Medio Ambiente. Eine Fliege brummt gegen das Fenster und mit einer Bewegung fängt sie das Insekt ein. Musca domestica, gemeine Hausfliege. Sie lauscht seinem Summen in der geschlossenen Faust, öffnet ein Vivarium, gibt die Fliege frei. Auf einer Zweigspitze sitzt regungslos eine Gottesanbeterin, nur die Fühler schwingen und zittern. Unbeteiligt dreht sie ihren Kopf zur Seite, plötzlich schießen ihre dornigen Fangwerkzeuge hervor, und sie reißt die Beute an sich.
Am nächsten Morgen schon macht sich Josefa auf den Weg. Ein kleiner gepflegter Vorort: einstöckige Häuser, Palmenavenida. Im Nordosten der Stadt ballen sich Wolken. Es riecht nach Feuchtigkeit. An diesem Wochenende arbeitet er nicht im Krankenhaus, das hat er ihrer Bettnachbarin anvertraut. In seiner Straße gibt es einen Supermercado und eine Bar. Josefa setzt sich draußen auf die Terrasse und bestellt einen Tee. Langsam belebt sich die Straße. Erst gegen Mittag taucht Dr. Curbelo auf. Er kommt ganz nahe an ihr vorbei, aber sie rührt sich nicht. Seine Augen sind müde und das Handy sticht bedrohlich aus seinem Jackett, ein richtiger Skorpionsstachel. Als er im Supermercado verschwunden ist, bezahlt Josefa und nimmt seine Fährte auf. Mit dem Einkaufswagen schiebt sie hinter ihm her: carne, fideos, frutas. Sie greift wahlos in die Regale: Unbeabsichtigt wird sie an der Kasse neben ihm stehen, sie wird säuseln und von Blumen und Wetter reden. So ein Zufall! Aber vor dem Gemüsestand stolpert sie, so daß ihr Einkaufswagen in seine Hacken fährt. Die Erinnerung an ihre rasierte Scham und die erotische Üppigkeit der Blüten in seinem Untersuchungsraum überlappen einander. Sie stottert, verhaspelt sich, wird schließlich dunkelrot, wie ein in der Sonne getrockneter Krebs. In seinem Kopf scheinen sich riesige Patientenkarteien umzuwälzen, seine Augen gleiten hinunter zu ihrem Bauch, als könne er dort Diagnose, OP, Eingriff rekonstruieren. Bis er entscheidet, sie nicht zu kennen. Schon gut, murmelt er und wendet sich ab.
Mist! Sie läßt den halbgefüllten Wagen stehen und flüchtet zurück zu der Bar, setzt sich unter die Markise der Terasse. Wolken liegen jetzt auf den Dächern. Die Landschaft ist verändert, als hielte sie den Atem an. Lautlos, langsam bewegen sich die Passanten. Alles glänzt in einem unwirklichen Licht; Häuser, Bäume, die Blüten der Bougainvillea wirken leblos. Modelle aus dem Baukasten. Eine Stille herrscht wie in der Nacht vor der Fehlgeburt, als sie aufschreckte aus einem Traum, aber sie erinnerte sich nur noch an die Dunkelheit und das Schweigen darin. Nichts war. Aber Josefa wußte, es war vorbei. Es war eine große Ruhe, eine Konzentration, wie in einem Gebet. Die Zurücknahme aller Kräfte, bevor die Energie sich entladen würde. Eine Schabe schiebt sich aus den Mauerspalten der Bar, gerade als Dr. Curbelo aus dem Laden tritt und über die Straße auf Josefa zukommt. Sie ist ruhig, unsichtbar und lauert. Trotz der großen Hitze schwitzt sie nicht. Die Cuca traut sich weiter heraus, die plötzliche Dunkelheit ermutigt sie. Josefa sitzt und wartet, den Hals, den Rücken aufgerichtet. Als das Insekt dicht vor ihren Füßen mit den Fühlern peilt, tritt sie zu. Der Panzer knackt unter ihrem Absatz. Parasit, denkt sie, wie das Embryo. Dann erstarrt sie wieder in äußerster Aufmerksamkeit, die Brust steil erhoben, nur die Augen bewegen sich. Der Platzregen setzt ein, als Dr. Curbelo wenige Schritte von ihr entfernt ist. Er muß in den stickigen Dämmerschatten der Markise flüchten, da, wo sie sicher und unsichtbar wartet. Te quiero. Te adoro, ich bete dich an! Wenige Schritte noch, vier, drei, zwei....Dann schießt sie hervor.

Boogie -Woogie
Ein Tanzstück, im Rhythmus eines Boogie - Woogie aufgeführt,
drei Stimmen:

Erzählerin
Frau
Mann


Ich habe sie tanzen gesehen.
Slow - slow - quick - quick.
Rückwärts, vorwärts,
im Wechselschritt.
Sie rollen die Hüften
und tanzen den Boogie,
das Piano klopft den Woogietakt. Rot leuchtet sein Hemd und rot ihre Schuh, sie drehen sich im Kreise ... er führt sie ins Solo, sie schwingt ihm davon ... und schließen sich wieder zu einer Figur.
Wann begann euer Tanz?
Hmhmhm ... Vor fünfundzwanzig Jahren. In denen wir drei Kinder großgezogen haben, durch unzählige Turbulenzen trieben, manchmal kein Land mehr sahen und fortgerissen wurden vom alltäglichen Strudel und doch wieder auftauchten einer am Körper des anderen.
Er faßt ihre Hüften
und stemmt sie hinauf
weit über seinen Kopf ...
hält sie einen Augenblick ...
schon ist sie zurück
am Boden und ...
Hoppla, ein Stolperschritt ... Eins zwei drei hat er ihn abgefangen. Gut, mein Alter, sehr gut. Und ich folge dir und dem reißenden Rhythmus. Obwohl ich müde bin ...
Die Harmonie ist ihr Geheimnis.
Das hat sie mir erzählt. Der Gleichklang ihrer Schritte.
Und daß man sich noch überraschen lassen mag. Und überrascht. Die liebevollen Gesten. Blumen, kleine Geschenke, nicht nur zum Hochzeitstag? Ja, all das natürlich, aber noch mehr, etwas, das sich mit Worten nicht beschreiben läßt ...
drei, vier ...
fort von ihm, und
zurück slow - slow
seine Hände gefasst
und durch seine
gegrätschten Beine
und wieder hinauf
eins, zwei, und vor
Sie ist so leicht, kennt die Figurenfolge... Ein Druck der Fingerspitzen genügt. Jetzt: Dreh dich, dreh dich ... So zart ist sie, als würde sie mir entschweben. Doch ich halte sie. Fasse ihre Taille, spüre ihren Atem an meinem Hals, und gebe sie wieder frei
drei, vier, Wechselschritt.
Jetzt folgt sie ihm
die Hand auf seinem Rücken.
Slow - slow- quick- quick.
Und drückt sich fort
dreht sich, wie er
sich dreht ...
von einander fort,
bis er sie wieder hält.
Und weiter gehts
im gleichen Takt.
Wer führt wen? Sie reißt ihn mit. Er eilt ihr nach. Drei Schritte vor und drei zurück.
Gib mir deine
Hand und
nimm mich mit
Liebe? ein Rechenexempel. Was du hier nimmst, mußt du dort wieder hinzufügen. Ganz einfach! Man muß nur dieser Logik folgen.
"And the Boogie and the Woogie, all night long ..."
hämmert das Piano
den Rhythmus, kreischt
das Saxophon dazu ...
Doch dann hat sie mich angerufen: es kriselt, hat sie gesagt, sie wisse nicht mehr weiter, er habe Forderungen, die sie nicht erfüllen könne. Früher, als die Kinder noch klein waren, seien ihr diese nicht so aufgefallen ... Ich war eben froh darüber, daß wir nach all den Jahren, bei den täglichen Drehungen und Wendungen noch eine gute Figur abgaben. Doch jetzt sind sie mir unerträglich, seine nüchternen Kalkulationen, die nie etwas anderes waren, als in Rechnung gestellte Gefühle.
Und er greift sie
um die Taille
sie geht leicht in die Knie
flechtet die Finger
um seinen Nacken
Springt, drei, vier ...
auf seine Hüften
Das ist toll. Das hat Klasse. Das kann man doch nur ...
Nein. Das verstehst du falsch. Ich habe es mir selbst lange nicht eingestehen wollen, tanzte weiter im Rhythmus, dachte, wenn ich im bekannten Gleichschritt bleibe, finde ich wieder zu ihm. Eins und Eins gleich Wir. Doch je mehr ich mich bemühte, umso mehr geriet ich aus dem Takt.
Stop ... and go
Boogie - Woogie
schreit das Saxophon
Boogie - Woogie
knurrt der Contrabaß
gib mir alles
und tanz mit mir davon.
Aber ...
Ja, er ist ein wunderbarer Mensch, ich weiß, und ich versuche es mit Geduld, immer wieder, doch kaum rücke ich näher an ihn heran, zeigt er mir, was ich ihm schuldig geblieben bin ...
ein Sprung nach rechts
ein Sprung nach vorn
wirf dich nach hinten
geh auf die Knie.
Und hoch, drei, vier
der Rhythmus verläßt
dich nie ...
Aber was hast du mir alles erzählt, von Vertrauen und Hingabe ?
Ja doch... Und daß er mich noch jedes Mal wie eine Auster geschlürft hat, von den Zehenspitzen bis ... naja ... Alles richtig. Trotzdem, es reicht nicht mehr. Vom Gleichtakt bleibt nur das Immergleiche, der Wechselschritt bringt keinen Wechsel mehr.
Sie ist nicht konzentriert, hat den Schritt verpatzt. Wart nur, ich führ dich im Takt ... zwei, drei, ja, jetzt folgt sie mir, wie im Schlaf. Und hört doch in ihrem Traum eine andere Melodie. Wie fest er mich hält und gehen läßt und wieder zupackt und ins Solo führt: quick - quick
und komm zurück
und jetzt in die
Knie und wieder
hinauf. Side by side ...
Jeden Morgen, wenn ich die Augen öffne, seinen Atem neben mir, frage ich mich: Soll´s das gewesen sein? Und wieder ziehe ich die roten Schuhe an ... Drei, vier, fünf, sechs,
and throw away
come back again
ganz nah heran
und dreh dich wie
ein Kreisel in
seinen Arm.
Und stop ...
Überlegen und vernünftig sein, das habe ich ihr geraten. Daß sie sich umschauen soll: die Freunde haben sich alle getrennt ... Wie er ihre Hand berührt, und wie sie ihn anschaut, flüchtig, fast scheu, und lächelt, ihm in die Augen, und er zurück ... das kann man nicht spielen, nein, nein, nein. Diese Spannung, ohne angespannt zu sein. Leicht, wie Seiltänzer, hoch in der Luft.
Ja. Nein. Sei still.
Rascher Wechsel
links und rechts und
wirbel davon
und eins, zwei, drei
schlägt das Klavier
und zurück zu mir
halt dich an meiner
Schulter fest und
wirf die Beine ...
Du könntest mit ihm reden. Eine Reise allein. Überall kriselt es.
And go
Boogie - Woogie
hämmer den Boden,
and drop me down
und hoch, links, rechts
und Wechselschritt ...
Doch immer bleibt da eine letzte Frage, die er um mich schlingt, wie ein Spinnennetz: Warum? Und ich hänge an diesem Faden und krieche rückwärts zu ihm zurück.
Wo ist sie nur ? Verdammt. Sie tanzt den Boogie, wirbelt davon, ist quecksilbrig, quirlig und reißt mich in ihrem Strudel mit
und Hüftschwung
und dreh
dich. Dreh dich. Hand
in Hand ...
Sie gleitet weiter und weiter davon ... Schaut manchmal durch mich hindurch, als sei ich garnicht vorhanden. Oder ein Möbelstück, das ihr schon lange den Weg versperrt. Sag mir, was willst du? Zeig mir den Weg und ich folge dir.
Rechter Fuß und
linker Fuß und schräg
zur Wand in diesem
Schritt und unter
meinen Armen
durch, dreh dich fort
und kehr zurück
ruft das Piano
und drei und vier
Vorbei.
Sie dreht sich aus seinen Armen und steht, steht Fuß an Fuß mit ihm, die Arme gestreckt, hält die Spannung, wild geht ihrer beider Atem, hebt und senkt sich ihr Brustkorb im Gleichtakt. Und da sagt sie: Jetzt ist Schluß. Laut, in die Stille hinein. Streift ihre Schuhe ab und geht zur Tür. Geht, ohne sich umzudrehen. Geht in den grauen Morgen hinein.


 

 

 

Ihr Kinderlein kommet.....


publiziert in FREITAG


Sie sind wieder da: Weihnachtsmänner, Marzipankartoffeln und Rauschgoldengel. Seit Wochen schon, und wie jedes Jahr stehen sie in Reih und Glied unter goldenem Flitter und herabgeholtem Sternenhimmel. Warten darauf endlich von begehrlichen Kinderhänden zerdrückt und den dazugehörigen Mäulern verschlungen zu werden. Schöne vorweihnachtliche Zeit, die mit Staniol und Watteschnee die Herzen öffnet und das Portemonaie.
Seit Wochen schon, und wie jedes Jahr sitzt auch der pausbäckige Weihnachtsmann auf dem Dach eines fünfstöckigen Kaufhauses und läßt die Beine an der Fassade herunterbaumeln. Sein rechtes Kniegelenk ist wohl beim Transport beschädigt worden, obwohl mit roter Farbe sorgfältig ausgebessert, bleibt der Riß deutlich zu erkennen. Aber er sitzt und lacht - lasset die Kindlein zu mir kommen - und alle Kinder recken die Köpfe, strecken die Finger: Der Weihnachtsmann ist da!
So bereitet die Stadt sich wie jedes Jahr auf das Fest der Freude vor, alles nimmt seinen gewohnten Lauf. Seit Wochen schon marschieren Muttis, Papas seltener, dafür die Großeltern umso eifriger mit großen Tüten ausgegrüstet durch die Einkaufsparadiese. Barby und Batman haben Hochsaison. Alles wie gehabt und in bester Ordnung.
Bis auf den gestrigen Donnerstagabend, um einundzwanzig Uhr: In den Straßen ein Gewühl wie zu Ostern vor dem Vatikan, der Countdown läuft, als plötzlich, aus himmlischer Höhe, ein riesiger schwarzer Stiefel mit weißem Pelzbesatz auf die Passanten stürzt. Schreiend spritzen sie auseinander, rennen kopflos auf die Straße, andere bleiben neugierig unter dem Vordach des Kaufhauses stehen, werden von weiteren Schutzsuchenden eingekeilt. Ein Auflauf, ein Tumult entsteht. Hupende Autos, quietschende Bremsen, darüber ein infernalisches Geschrei aus Kinderkehlen. Ein Attentat! ruft ein Großvater und hechtet mit Stock und Paketen hinter einen Stützpfeiler des Kaufhauses. Dann ist es still. Keine Detonation, kein Blut? Langsam trauen sich die ersten wieder aus ihrem Unterschlupf hervor. Das Schuhwerk aus Pappmache ist in hundert Teilen auf dem Trottoir zerborsten. Die ersten Neugierigen erreichen gerade den Schauplatz, recken sich zum malträtierten Kniestumpf des Weihnachtsmannes hoch, suchen nach Erklärungen, als sich oben quietschend ein Mechanismus in Gang setzt, ein gigantischer Bonbonregen prasselt herab und durch den Hagelschauer ertönt ein Kinderchor: „...und seht, was in dieser hochheiligen Nacht...". Der Weihnachtsmann, so gefüllt und programmiert für den folgenden Nikolaustag, entleert sich vollständig. Wieder laufen die Passanten auseinander, um schon im nächsten Moment, lachend, mit geöffneten Armen einzufangen, was an Naschwerk niederregnet.
Das Chaos hat die gesamte Belegschaft und die Kunden aus dem Erdgeschoß des Kaufhauses herbeigelockt, selbst der Kaufhausdetektiv steht mit offenem Mund und starrt in das Getümmel. Diese Unaufmerksamkeit nutzen die, die es nach mehr als Bonbons verlangt, sie huschen in das Kaufhaus und raffen Kosmetik, Schmuck, Spielsachen an sich. Als Detektiv und Verkäuferinnen zurückkehren an ihre angewiesenen Plätze, dem begehrten Feierabend um zwanzig Minuten nähergerückt, finden sie eine losgelassene Horde, die nicht mehr zu bändigen ist.
Man kann sich vorstellen, wie es nun weitergeht: Das Kaufhaus wird geplündert, unbescholtene Bürger lassen sich anstecken, eine Stimmung wie zum ersten Mai in Kreuzberg, Masseneuphorie. Mutige Verkäuferinnen verteidigen die Reste in den Regalen, es kommt zu handgreiflichen Ausschreitungen, Prügeleien. Bis schließlich eine Hundertschaft der Polizei die Ordnung wieder herstellt.

Ich kann Sie beruhigen. Nichts dergleichen ist geschehen und alles ist nur der bösartigen Phantasie der Verfasserin entsprungen. Der Weihnachtsmann sitzt, wie jedes Jahr, lächelnd auf dem dach des Kaufhauses und wird wohl, wie geplant, am sechsten Dezember die Kinder im Kiez erfreuen.
Trotzdem! Der Riß im Knie ist keine Phantasie und die rote Farbe kann ihn nicht verdecken. Können SIE sich ausmalen, was geschieht, wenn der Stiefel fällt?

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